Mit „Kalt genug für Schnee“ hat Jessica Au einen Roman über die Betrachtung der Welt, über versuchte Nähe und Unzulänglichkeit geschrieben. Lena Andersson erzählt in „Der gewöhnliche Mensch“ von den Träumen und Lebenslügen einer scheinbar ganz gewöhnlichen schwedischen Familie. Livia Gerster gelingt in „Die Neuen – Eine Generation will an die Macht“ ein fesselnder Mix aus investigativer Politikreportage und soziologischem Generationenporträt.
„Kalt genug für Schnee“
Eine Mutter und eine Tochter reisen – die eine aus Hongkong, die andere aus Melbourne – nach Tokio. Einfühlsam stellt die Tochter ein Programm für die beiden zusammen, das über die Annäherung an Kunst und Natur auch zu einer neuerlichen Annäherung der beiden führen soll. Sie flanieren entlang der Kanäle, essen in dampfenden Garküchen, besichtigen Galerien, Gärten und Tempelanlagen. Doch die ersehnte Vertrautheit will sich nicht einstellen, scheint ihnen immer wieder zu entwischen, und die Ungewissheit überwiegt: Wer spricht hier wirklich – nicht vielleicht doch nur die Tochter? Was verbirgt sich hinter all dem Unausgesprochenen dieser sonderbar entrückten Reise?
Jessica Au hat in Melbourne Kunstgeschichte und Jura studiert und war Redakteurin der Zeitschrift Meanjin. Ihr Debütroman „Cargo“ erschien 2011. „Kalt genug für Schnee“ ist ihr zweiter Roman und erhielt 2021 den von den Verlagen Fitzcarraldo, New Directions und Giramondo neu ausgerufenen Novel Prize. Der Roman wird in 20 Ländern erscheinen.
Jessica Au: „Kalt genug für Schnee“
Übersetzt von Brigitte Jakobeit
Suhrkamp, 2022. 121 Seiten, 20 Euro.
„Der gewöhnliche Mensch“
Ragnar Johansson ist Möbeltischler und Werkstattlehrer. Ein kantiger und sehr korrekter Mensch, der stolz darauf ist, als Handwerker einer der Bausteine des schwedischen „Volksheims“ zu sein. Er glaubt an den Wohlfahrtsstaat und ist davon überzeugt, dass dieser die Menschheit aus dem finsteren Mittelalter in die Moderne geführt hat. Hatte Schweden nicht in den 1970er Jahren schon die meisten Kindertagesstätten, die geringsten Lohnunterschiede, den größten Filmregisseur, die vorderste Kinderbuchautorin, den besten Slalomläufer, Tennisspieler und die beste Popband? War dieses Leben nicht besser als das seiner Mutter Svea, die aus ärmlichen bäuerlichen Verhältnissen stammt? Lange Zeit versucht Ragnars Tochter Elsa, den hohen Idealen ihres Vaters gerecht zu werden. Doch irgendwann schert auch sie aus. Die Zeit, so scheint es Ragnar, ist plötzlich nicht mehr seine.
Lena Andersson, 1970 in Stockholm geboren, gilt als eine der wichtigsten Autorinnen Schwedens. Für den Roman „Widerrechtliche Inbesitznahme“ wurde sie mit dem renommierten August-Literaturpreis ausgezeichnet. Ihre Bücher sind in Schweden allesamt Bestseller und wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Lena Andersson fuhr als Jugendliche jahrelang wettkampfmäßig Ski. Heute lebt sie als Journalistin und Autorin in Stockholm, wo sie sich einen Namen als streitbarste zeitgenössische Kritikerin des Landes gemacht hat.
Lena Andersson: „Der gewöhnliche Mensch“
Übersetzt von Antje Rávik Strubel
Luchterhand, 2022. 288 Seiten, 24 Euro.
„Die Neuen – Eine Generation will an die Macht“
Bei der letzten Wahl sind so viele junge Abgeordnete wie nie zuvor in den Bundestag eingezogen. Dass ihre Aufgabe die Klimawende sein wird, das wussten sie. Auch auf Auseinandersetzungen mit Rechtsradikalen und Querdenkern waren sie vorbereitet. Aber dass sie es mit einem Krieg zu tun bekommen würden und mit dessen Folgen, davon ahnten sie nichts. Schnell müssen die Neuen schwerwiegende Richtungsentscheidungen treffen. Aber ihre Ideale wollen sie nicht aufgeben. Wird ihnen dieser Spagat gelingen? Oder werden sie im Kampf mit der älteren Generation der Babyboomer selbst zu den angepassten Funktionären, die sie nie werden wollten?
Die Politikjournalistin Livia Gerster heftet sich in ihrem Buch an die Fersen junger Parlamentarier:innen aus allen Parteien. Kevin Kühnert (SPD) und Ricarda Lang (Grüne) sind darunter, aber auch völlig unbekannte Neulinge wie eine Klimaaktivistin aus dem Straßenprotest, eine radikale Impfgegnerin aus Sachsen und ein junger Abwassermeister aus dem Irak. Sie begleitet die Neuen durch die Zeitenwende von Putins Krieg und verfolgt ihre politischen Kämpfe.
Livia Gerster, geboren 1990 in München, studierte Arabistik und Geschichte in Leipzig und Berlin mit Stationen in Cádiz, Beirut und Jerusalem. Sie ist seit 2016 Redakteurin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, seit 2018 schreibt sie für den Politikteil der Sonntagszeitung. Am liebsten verlässt sie den Schreibtisch für gesellschaftspolitische Reportagen und Porträts von Menschen aus dem Innenraum der Macht.
Livia Gerster: „Die Neuen – Eine Generation will an die Macht“
C.H. Beck, 2022. 335 Seiten, 24 Euro.