Kristina Pfister erzählt in „Ein unendlich kurzer Sommer“ eine atmosphärische Geschichte vom Ankommen und Neubeginnen. „Orwells Rosen“ von Rebecca Solnit ist eine bemerkenswerte Reflexion über Lebenslust und Schönheit als Widerstandsakt. In „Warten auf Godeau“ hat Fotograf Herman Seidl 30 Jahre am Straßenrand der Tour de France zusammengefasst.
„Ein unendlich kurzer Sommer“
Wo soll man eigentlich hin, wenn man vor sich selbst davonläuft? In irgendeinen Zug einsteigen und bis zur Endstation fahren? So jedenfalls landet Lale auf dem heruntergekommenen Campingplatz an diesem See, der fast zu schön ist. Sie hilft dem alten, grantigen Besitzer Gustav beim Renovieren der maroden Bäder, füttert die flauschigen Kaninchen, trägt jeden Tag die gleiche, alte Latzhose und schweigt. Bis Christophe diese vermeintliche Ruhe durcheinanderbringt. Christophe mit den dunklen Augen, angereist vom anderen Ende der Welt, auf der Suche nach seinen Wurzeln. Christophe, der zu spüren scheint, was Lale fühlt. Gemeinsam erleben sie den einen Sommer, der bleibt: Flirrende Hitze, glitzerndes Wasser, gemeinsame Floßfahrten, ausgeblichenes Haar.
Kristina Pfister wurde 1987 in Bamberg geboren und verbrachte schon als Kind zahlreiche schöne Ferientage auf den Campingplätzen Europas. Der Sommer ist für sie am schönsten mit den Füßen im Wasser. Deshalb studierte sie am Bodensee, fährt wenn möglich jedes Jahr ans Meer, und freute sich sehr, als sie 2018 ein Aufenthaltsstipendium im „Baltic Centre for Writers and Translators“ auf der Insel Gotland bekam. Wenn sie nicht gerade an einem Strand zeltet oder auf schwedischen Inseln schreibt, lebt und arbeitet sie in Nürnberg.
Kristina Pfister: „Ein unendlich kurzer Sommer“
Fischer Taschenbuch, 2022. 368 Seiten, 16 Euro.
„Orwells Rosen“
„Neben meiner Arbeit interessiert mich am meisten das Gärtnern“, schrieb George Orwell 1940. Mit Erstaunen erkennt Rebecca Solnit nach einem Besuch im Garten von Orwell, wo seine Rosen noch heute blühen, dass es die Natur war, die Orwell Kraft gab, unermüdlich anzuschreiben gegen Faschismus und Totalitarismus.
Die Verquickungen von Macht und Schönheit führen Rebecca Solnit aus Orwells Garten zu den drängenden Fragen unserer Gegenwart, die sie bereits in den dreißiger Jahren angelegt sieht. Sie findet koloniale Hinterlassenschaften in Blumengärten, erkennt in Stalin mit seiner Besessenheit, Zitronen am Polarkreis züchten zu wollen, einen Vorläufer der „Klimaskeptiker“ und sieht in der Rosenindustrie ein Paradebeispiel globalisierter Ausbeutung.
Rebecca Solnit macht sich unerschrocken auf in neue Gefilde – ihre Lektüre sensibilisiert für unsere Welt, spendet Trost und stellt sich, trotz allem unerschütterlich optimistisch, den Herausforderungen unserer Zeit.
Rebecca Solnit, Jahrgang 1961, ist eine der bedeutendsten Essayistinnen und Aktivistinnen der USA. Sie ist Mitherausgeberin des Magazins „Harper’s“ und schreibt regelmäßig Essays für den „Guardian“. Für ihre Werke erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter den renommierten Book Critics Circle Award. Ihr Essay „Wenn Männer mir die Welt erklären“, auf dem der Begriff „mansplaining“ beruht, ging um die Welt. Auf Deutsch erschienen von ihr zuletzt „Unziemliches Verhalten. Wie ich Feministin wurde“ und „Wanderlust. Eine Geschichte des Gehens“.
Rebecca Solnit: „Orwells Rosen“
Übersetzt von Michaela Grabinger
Rowohlt Buchverlag, 2022. 352 Seiten, 24 Euro.
„Warten auf Godeau“
Ob im Flachland oder im Hochgebirge, in kleinen Dörfern oder kurz vor der Zielgeraden mitten in Paris – Jahr für Jahr formieren sich im Juli Millionen begeisterter Fans aus aller Welt entlang der Rennstrecke der Tour de France und fiebern dem großen, wenn auch kurzen Moment entgegen, in dem das Peloton an ihnen vorbeirauscht. Gespannt warten sie auf die Ankunft der Spitzensportler, allzeit bereit, sie im entscheidenden Augenblick voller Inbrunst – und teilweise mit ausgefallenen Requisiten – anzufeuern.
Dreißig Jahre lang hat der Fotograf Herman Seidl seine Kamera auf diese nur für wenige Stunden, ja oft nur Minuten oder Sekunden existierenden Szenen gerichtet und die besondere Stimmung und Leidenschaft unter den Zuschauern eingefangen, die wesentlich zum Reiz des Rennens beitragen.
„Warten auf Godeau“ ist eine unvergleichliche Auswahl von Bildern voller Dynamik, Nervenkitzel, Hingabe und Witz, und zugleich ein faszinierendes Zeitzeugnis sowie eine besondere Reise durch Frankreich. Roger Godeau (1920–2000) war übrigens ein französischer Radsportler, der als mutmaßliches Vorbild für den Titelhelden von Samuel Becketts Theaterstück „Warten auf Godot“ gilt.
Herman Seidl, geboren 1960 in Neumarkt/Steiermark, Österreich, ist seit 1985 freischaffender Fotograf und arbeitet für diverse Tageszeitungen, Magazine und Fotoagenturen in Europa. Von 1987 bis 2017 fotografierte er die Tour de France, die ihn als „größter Warteraum der Welt“ seit Jahrzehnten fasziniert. Er lebt in Salzburg.
Herman Seidl: „Warten auf Godeau“
Dumont, 2022. 176 Seiten, 20 Euro.